Palme D'OR Cannes 1999 - Bester Film
Palme D'OR Cannes 1999 - Beste Darstellerin (Emilie Dequenne)

Interview mit Emilie Dequenne

"Rosetta" ist Ihr erster Film. Haben Sie davor bereits Theatererfahrungen gemacht ?

Emilie Dequenne: Meine Eltern haben mich immer ins Theater mitgenommen. Als ich fünf oder sechs jahre alt war, ging ich bereits zwei oder drei Mal pro jahr ins Theater. Es war eine sehr lustige Truppe. Man sah all die Schauspieler und die wunderbaren farbenprächtigen Ausstattungen. Ich fühlte mich davon angezogen und hatte schon sehr früh Lust, auch so etwa zu machen. Als ich acht Jahre alt war riet ein Arzt meiner Cousine, die schlecht artikulierte, Aussprachekurse zu nehmen. Um mich am Mittwochnachmittag zu beschäftigen, schrieb meine Mutter mich zusammen mit meiner Cousine in einem Aussprachekurs ein. Ich hatte auch Deklamationskurse. Diese bestanden im Vorbereiten von Texten klassischer und zeitgenössischer Autoren und im Lesen dieser lexte, mit lauter Stimme und ohne den Körper zu bewegen. Die Gefühle und Emotionen. müssen alle allein mit der Stimme ausgedrückt werden. Ich arbeitete mehr für diese Kurse als für die Schule. AIs ich etwa 12 Jahre alt war entstand ein Theateratelier. Ich besuchte zu allen anderen auch noch diesen Kurs. Ich betrieb also während 10 Stunden pro Woche Theater. Aber als ich zwei Jahre vor dem Abitur stand, bekam ich schulische Probleme. Ich musste meine Theateraktivitäten beenden, um mich auf die Schule zu konzentrieren, um mein Abitur zu bestehen.

Dachten Sie bereits ans Kino während diesen Theaterjahren ?

Emilie Dequenne: Aber sicher. Ich verfolgte das mit Interesse. Ich schnitt alle Casting-Inserate aus, die ich finden konnte. Das erlaubte mir zu träumen. Aber schlussendlich sendete ich nie mein Foto ein: "Du träumst! Die nehmen dich niemals!" Ich habe also jegliche Theateraktivität beendet und während ungefähr zwei Jahren wirklich aufgehört an all das zu denken. Bis zu dem berühmten Tag, als meine Tante mich zu sich rief um mir zu sagen :"Hier ist eine interessante Adresse. Schicke dein Foto ein und verkaufe dich gut !" Ich wählte also ein Foto von mir aus und schrieb einen Brief. Ich habe das berüchtigte Inserat bis heute nie zu Gesicht bekommen. Was den Brief anbelangt, glaube ich erklärt zu haben wie schwierig es sei, den Beruf auszuüben, den man liebt, und, von seiner Kunst zu leben. Ich habe aber angefügt, dass ich Lust hätte es auszuprobieren. Um meiner Tante zu gehorchen, habe ich noch einen Lebenslauf beigelegt, indem ich von meinen Theater- und Deklamationskursen und von dem gewonnenen Wettbewerb sprach. Kurz, ich unterstrich alle guten Sachen.

Hat man Sie rasch vorsprechen lassen ?

Emilie Dequenne: Acht Tage später erhielt ich einen Brief von einem Assistenten. Ich sollte in Liege vorsprechen. Es dauerte ungefähr eine Viertelstunde und fand in einem alten Theater statt. Ich wurde von Leuten, die mir nicht recht sagten, wer sie waren, empfangen. Es waren die Brüder.... ich hatte "La Promesse" nie gesehen, hatte aber von den Brüder Dardenne sprechen hören, ohne ihre Gesichter zu kennen.

Was haben die beiden Sie gefragt ?

Emilie Dequenne: Ich habe mich ein bisschen vorgestellt und dann haben sie mich kleine Sachen machen lassen. Sie haben mir gesagt: ...Stell dich mit dem Rücken zu uns. Auf "Action" drehst du dich um und sagst "Ach, Guten Tag, wie geht's? " Ich musste auch ein paar kleine Improvisationen machen. Ich glaube, sie testeten vorallem meine Fähigkeit zu reagieren und zu spielen. Sie haben nicht versucht, herauszufinden ob ich die Figur spielen könnte oder nicht. Acht Tage später hat mich ein Assistent angerufen- Diesmal war ich für ein längeres Gespräch aufgerufen. Der Assistent hat aufgelegt und 10 Minuten später nochmals angerufen, um mir zu sagen: "Schneide ja nicht deine Haare ab!" Da habe ich gedacht, dass ich sie vielleicht ein kleines bisschen interessiere..Dieses Mal hatten wir zu arbeiten begonnen. Sie gaben mir kleine Ausschnitte aus dem Drehbuch, die ich während ein paar Minuten durchlas, bevor ich versuchte sie zu spielen.
Am Schluss haben sie mir ein paar Fragen gestellt : .."Wann fährst du in den Urlaub :.. Ich sagte mir also, dass ich wahrscheinlich noch in der engeren Auswahl stand. Wir haben uns noch einmal gesehen, diesmal während einem ganzen Tag, Wir haben gearbeitet. Sie haben mich gefilmt und am Schluss gesagt: Es ist jetzt Anfang Juli. Wir geben dir eine endgültige Antwort am 15. wir haben noch nichts entschieden. Aber falls wir dich nehmen, dürftest du nicht zu stark gebräunt sein und Müsstest ein bisschen abnehmen...... Ich sagte mir: Das ist ja alles gut und recht. Aber wenn ich das Mache, und sie mich dann nicht nehmen, würde mich das schon nerven. Ich glaube, sie zögerten zwischen mir und einem anderen Mädchen. Ich bin am 9. Juli in den Urlaub gefahren und dachte die ganze Zeit daran. Ich überlegte immer zweimal, bevor ich ein Eis ass, Und dann, am 15.Juli, dachte ich seltsamerweise gar nicht daran. Als mich meine Mutter anrief und mir sagte : "Bleib dran, ich geb dir deinen Vater", beunruhigte mich das, aber ohne an all das zu denken. Ich glaubte, dass es zu Hause irgend ein Problem gegeben hatte. Da habe ich plötzlich die Stimme meines Vaters gehört : „Bräune dich nicht! Sie nehmen dich für den Film." Da habe ich wirklich einen Schock gehabt und habe mit meinem Vater zusammen geweint...

Danach haben Sie das Drehbuch gelesen ?

Emilie Dequenne: Ja, und meine Eltern auch. Wir haben uns auch "La Promesse" angeschaut. Ich hatte vorher noch nie ein Drehbuch gelesen und fand es ziemlich seicht, verglichen mit einem Roman. Aber ich fühlte mich sofort angezogen von der Figur der Rosetta. Sie wirklich zu verstehen begonnen habe ich erst, als ich mich mit der Figur während der Arbeit auseinandersetzte. Im September haben wir mit den Proben begonnen. Wir haben vorallem die Bewegungen von Rosetta trainiert. Das Gitter wegschieben und wieder hinschieben, die Stiefel an- und abziehen, Mit geröteten Händen und schmutzigen Fingernägeln...Ich lernte also die Brüder Dardenne kennen. Mir gefiel es von Anfang an, mit ihnen Zeit zu verbringen, ich fühlte mich wohl in ihrer Gegenwart. Das einzige was mich störte waren die Kostümproben. Man betrachtete mich als Rosetta, und nicht als Emilie. Das kam mir komisch vor. .

Haben Ihnen die Brüder von Rosetta erzählt ?

Emilie Dequenne: Überhaupt nicht. Sie haben mir gesagt : "Sie hat keinen Vater, man weiss nicht wo er ist. Sie hat Bauchschmerzen, man weiss nicht warum. Es ist einfach so." Ich habe mir also meine eigenen Sachen ausgedacht. Ich habe mir gesagt, dass ihre Mutter sie sehr früh gehabt hat und dass der Vater eines Morgens einfach gegangen ist. Mit einem Vater, der nicht da ist und einer Mutter, die Alkoholikerin ist, fehlt Rosetta die Liebe und die Wärme. Daher kommen vielleicht die Bauchschmerzen und die elektrische Wärme des Haartrockners, welche die Schmerzen zu lindern verrnag. Aber das waren meine Ideen. Ich behielt sie für mich.

Hatten Sie das Gefühl, bewusst ihr Verhalten zu ändern ?

Emilie Dequenne: Weil Rosetta schnell läuft, hielt ich die Schultern und den ganzen Oberkörper nach vorne. Um schneller zu gehen, gegen den Wind und die Kälte. Im Alltag gehe ich überhaupt nicht so, ab er zu Rosetta passte es, Wenn ich die Kleider von Rosetta trug. hatte ich sofort eine schlechte Haltung. Arn Tisch zum Beispiel sass ich nicht aufrecht, hatte die Ellbogen auf dem Tisch und liess mich gehen. Rosetta ist ihre Haltung total egal. Sie denkt nur ans Überleben. für Geziertheit hat es in ihrem Leben keinen Platz. Sie will gepflegt aussehen, damit man sie einstellt, der Rest interessiert sie nicht. Vor den Dreharbeiten schminkte ich mich, seither nicht mehr. Das verdanke ich Rosetta.

Wie verliefen die Dreharbeiten ?

Emilie Dequenne: Es war schwierig. Am Anfang ist es schwierig, weil man Angst hat, etwas falsch zu machen. Man weiss noch nicht, wie das Ganze abläuft. Nachher macht einem die Müdigkeit zu schaffen und die Verantwortung, die man trägt. Mir wurde im Verlauf der Tage die Wichtigkeit von Rosetta bewusst. Ich durfte also nicht versagen, sonst war der ganze Film im Eimer.

Diese Verantwortung lastete am meisten auf mir. Einmal bin ich, wegen dieser grossen Verantwortung, während den Dreharbeiten in Tränen ausgebrochen, Ich wollte, wirklich auf der Höhe sein. Die Brüder hatten mich ausgewählt und sollten es nicht bereuen. Wissen Sie, ich bewundere die Brüder. Sie hatten mir eine spannende Herausforderung angeboten. Ich musste also unbedingt überzeugen. Ich versuchte also durchzuhalten, meine Szenen auswendig zu kennen und mich nicht zu beklagen. Und am Abend, wenn mich meine Mutter anrief und fragte Wie die Dreharbeiten Verlaufen seien, ermüdete mich schon der Gedanke daran, erzählen zu müssen. Ich sagte ihr also: "Mir geht es gut, ich bin glücklich, aber sehr müde. Sprechen wir also von etwas anderem... "

Wie verlief die Arbeit mit den Brüdern und der Equipe ?

Emilie Dequenne: Am Anfang schüchterte mich Jean-Pierre ein wenig ein.Es war für mich also einfacher mit Luc zu sprechen. Aber die beiden sind ja auf eine Art eins. Sie sind beide ehrlich und sie sind Perfektionisten. Luc ist vielleicht ein bisschen offener und Jean-Pierre ein wenig verschwiegen. Luc ist optimistischer als Jean-Pierre, der nie zufrieden ist. Diese Unzufriedenheit bringt ihn aber voran. Jean-Pierre versuchte auch immer, uns in die Stimmung der entsprechenden Szene zu bringen. Dafür ist er sehr begabt...

Ihre Techniker sind alle alte Mitarbeiter, die sie gut kennen. Sie bilden eine Art geschlossene Familie. Die Techniker bewundern die Brüder und unterstützen sie immer, verzeihen ihnen, auch wenn sie herummeckern. Es ist wie ein Nest. Wenn ich den fertigen Film sehe, sehe ich sie, jeder seiner Aufgabe gewidmet. Sie haben alle grossen Respekt vor den Brüdern. Man macht was die Brüder wollen, auch wenn man nicht immer versteht, warum sie etwas gerade so wollen.

Und nach den Dreharbeiten ?

Ernilie Dequenne: Ich war wirklich sehr traurig und ging anschliessend nach England, um mein Englisch zu verbessern. Ich hatte das Gefühl etwas vollendet zu haben und sagte mir: "Hoffentlich mache ich eines Tages wieder in einem Film mit!" Ich versuchte, mir nicht zu viele Fragen zu stellen. Die Brüder riefen mich während der Montage regelmässig an. Und dann, eines Abends, rief mich Luc an und sagte: "Wir gehen nach Cannes!"

Wie sehen Sie die Zukunft ?

Ernilie Dequenne: Ich will weiter machen und hoffe zeigen zu können, dass ich nicht per Zufall Rosetta war. Mein Vater sagt, dass man am Glück arbeiten kann. Das gefällt mir als Lebensmoral. Ich glaube, man muss Dinge selbst auslösen, wenn man will das etwas passiert. Man muss es wie Rosetta machen. Man muss immer kämpfen und vorwärts gehen. (Interview: Michèlle Halberstadt)

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