Palme D'OR Cannes 1999 - Bester Film
Palme D'OR Cannes 1999 - Beste Darstellerin (Emilie Dequenne)

Interview mit Luc und Jean-Pierre Dardenne

Wie haben Sie den Erfolg von "La Promesse" erlebt und auf welche Art hat dieser Erfolg auf "Rosetta" Druck ausgeübt ?

Luc Dardenne: Bevor "La Promesse" in den Kinos zu sehen war, hörten wir von verschiedenen Seiten, dass unsere Arbeit keinen Erfolg beim Publikum haben würde. "La Promesse" wurde aber von den richtigen Leuten gesehen. Es war, als ob wir auf "La Promesse" hätten warten müssen, um unsere Sprache zu finden. "La Promesse" ist der erste Film, den wir genau so gemacht haben wie wir es wollten. wir haben uns auf diejenige Art für Dinge interessiert, die uns gefiel; wir haben so gefilmt, wie wir es wollten und mit denjenigen, die wir wollten.

Jan-Pierre Dardenne: Gleichzeitig ist diese Erkenntnis gefährlich, weil man sich langweilen kann. Es ist viel interessanter, wenn man dir sagt, dass es so nicht geht. Das bringt dich voran in deiner Arbeit. Es ist immer besser gegen etwas zu arbeiten. Es bestand also diese Angst, dass uns "La Promesse" verweichlichen würde. Während den Dreharbeiten von "Rosetta" hatten wir für Kamera, 'Ton, Montage, Ausstattung, Licht und Mischung die gleichen 'Techniker wie für "La Promesse". Wir mussten ihnen sagen : "Leute, wir machen nicht nochmals "La Promesse". Sonst sagt man dir: " Aber, in "La Promesse" machten wir das so...." Wir haben also gesagt : "Nervt uns nicht mehr mit "La Promesse"." Es stimmt, das "infernale Duo" Roger und Igor, Vater und Sohn von "La Promesse", hat uns ziemlich lange verfolgt. Im übrigen, als wir Olivier Gourmet, der Roger spielte, fragten, ob er wieder mit uns arbeiten wolle, haben wir uns geschworen, dass er auf keinen Fall Roger gleichen dürfe. Es war für ihn und für uns eine Herausforderung:

Welches war der Anfangspunkt des Drehbuchs von "Rosetta " ?

Luc Dardenne: Wir hatten Lust, mit einer Frau zu drehen, einen Film über eine Frau zu machen. Aber wir wussten nicht was. Wirklich zu schreiben begonnen haben wir im Oktober 1997.

Jean-Pierre Dardenne: Wir haben uns für die Sache Zeit genommen. Wir wollten uns wegen einer angeblichen Dringlichkeit nicht gestresst fühlen: "La Promesse" hat gefallen, schnell, wir müssen einen Neuen machen. Wir haben uns die Zeit eingeräumt, die wir brauchten. Es wäre unmöglich gewesen schneller zu arbeiten, denn das "infernale Duo" war sehr gegenwärtig.

Luc Dardenne: wir haben wieder begonnen wie gewöhnlich zu leben. Wir produzieren ungefahr fünf Dokumentarfilme pro Jahr. Dem haben wir uns gewidmet. Das erlaubt einem, sich für andere Autoren zu interessieren. Im Grossen und Ganzen haben wir ein Jahr gebraucht, um ein Drehbuch zu verfertigen. Wir haben alle Aufträge, die man uns anbot, abgelehnt, sogar die sehr interessanten. Denn ausser der Produktion der Dokumentarfilme wollten wir uns ganz "Rosetta" widmen.

Kam der Vorname als erstes ?

Jean-Pierre Dardenne: Wir hatten verschiedene. Wir wollten einen der mit "a" endet. Das gibt ihm italienische Ursprünge. Es hat viele Italiener in Seraing. Sie repräsentieren 20 Prozent der Bevölkerung. Der erste Vorname, den wir gewählt aber nicht behalten haben, endete mit einem "a". Wir suchten weiter. "Traviata", das ging nicht... Die Frau von Luc hat uns von einer Schriftstellerin, einer Italienerin namens Rosetta Loy erzählt. Daher dieser Vorname.

Wie enstand die Idee ?

Luc Dardenne: Wr haben an die Figur K von Kafkas "Das Schloss" gedacht. K hat keinen Zugang zum Schloss, man lehnt ihn im Dorf ab. Er fragt sich, ob das Schloss wirklich existiert. Dies hat uns auf die Idee eines Mädchens, welches ausserhalb steht, gebracht. Sie will von der Gesellschaft anerkannt werden, Teil der Gesellschaft sein, wird aber immer wieder rausgedrängt. wir haben beschlossen, daraus ein besessenes Mädchen zu machen. Welches von einer einzigen Idee eingenommen ist: eine Arbeit zu haben, um wie die anderen zu sein und ein normales Leben zu führen. Wir haben entschieden, unserer Hauptperson diese fixe Idee in den Kopf zu setzen und zu sehen, wieweit sie dies treiben kann. wieweit sie von ihrem Umfeld getrieben werden kann. Anhand dieser Idee haben wir viel geschrieben, bevor wir herausgefunden haben, wer Rosetta ist.

Jean-Pierre Dardenne: Wir hatten beschlossen. nicht von einer Geschichte auszugehen. sonsern von einer Person. Im Unterschied zu .."La Promesse" wollten wir ein Drehbuch anhand der Ereignisse konstruieren. Wir wolIten im Zuschauer die Frage aufwerfen: Was wird ihr zustossen ? Wie wird sie sich durchschlagen?" So mussten wir also eine neue Art zu schreiben finden.

Sie sagen Rosetta sei eine Kriegerin...

Jean-Pierre Dardenne: Arbeit zu haben oder nicht ist der Krieg, den die Leute heute führen. Nicht zu arbeiten, ohne es gewählt zu haben, bedeutet ein Ausschluss aus der Gesellschaft. Man verliert seine Orientierungspunkte, ist unstrukturiert. Man weiss nicht mehr wo sein PIatz ist, ob man überhaupt noch einen hat. Die Arbeit gibt einem Autgaben und Rechte. Wenn man keine Arbeit mehr hat, hat man keine Rechte mehr. Arbeit ist eine seltene Sache geworden. Es gibt sie nicht mehr. Um Arbeit zu fnden wird man in die Enge getrieben, ist manchmal gezwungen, den Platz eines anderen einzunehmen. Man kann zu allem bereit sein, um eine Stelle zu finden.

Luc Dardenne: Rosetta ist eine Kriegerin, die sich nie geschlagen gibt, die immer von neuem angreift. Eine Überlebende, die nach ihren Grundbedürfnissen lebt: Wasser, Wohnung, Nahrung. Sie hat ihre eigenen Waffen und ein Überlebenssystem gefunden. Stiefel für den Camping, Schuhe für die Arbeit, eine Schachtel für die Angelhaken, eine Flasche zum Fischen, etc... Sie hat eine Ähnlichkeit mit Roger und Igor, aber in einem anderen Bereich. Sie schlägt sich durch, immer vom Arbeitsplatz, den sie sucht, besessen.

Warum lebt sie auf einem Campingplatz ?

Luc Dardenne: Wir wollten, dass Rosetta in schwierigen Lebensumständen lebt, damit sie spürt, wie sie in ein Loch fällt. Ich glaube, um von spiritueller und moralischer Verwirrung zu sprechen, muss man von materieller Entsagung ausgehen. In einer Situation von materieller Not kann man übertreiben und fiktionalisieren, um die aufgeworfenen moralischen Fragen aufzuzeigen. Letztlich die eine F rage: Töten oder nicht töten.

Wie haben Sie die Charakterzüge von Riquet entworfen?

Luc Dardenne: Wir haben damit mehr Zeit verbracht, als damit uns Rosetta auszudenken. Er hat keine Hintergedanken. Er erzählt nur eine Geschichte. Sie dagegen spioniert, verdächtigt, schaut durch Schlüssellöcher und hat immer Angst, Opfer eines Komplotts gegen sie zu sein. Riquet ist jemand, der anderen hilft. der sagt : "Da bin ich." Rosetta kann das nicht verstehen.

Jean-Pierre Dardenne: Wenn er am Schluss zurückkommt, dann weil er nicht akzeptiert, was sie ihm angetan hat. Er verfolgt sie. Sie ist auf eine Art sein Opfer geworden. Durch seine Belästigungen hilft er ihr zu überleben. Dieses angespannte, eigensinnige. abgehärtere Mädchen vertraut sich schliesslich einem anderen an. akzeptiert seine Hilfe.

Hatten Sie Angst, niemanden für die Rolle von Rosetta zu finden ?

Jean-Pierre Dardenne: AIs wir das Drehbuch schrieben, haben wir immer daran gedacht. Dazu kam der Druck des vorhergehenden Filmes. Die Angst sich zu wiederholen.

Zogen Sie es nicht in Betracht eine erfahrene Schauspielerin für die Rolle zu nehmen?

Luc Dardenne: Nein. Wir suchten eine Person, keine Persönlichkeit. Der Titel ist ein Vorname. Der Vorname muss den Film tragen. Rosetta ist die Gesprächspartnerin des Zuschauers. Wir haben zwischen drei Schauspielerinnen gezögert. Das einzige Kriterium bei den Probeaufnahmen war, dass sie wirklich voll und ganz da sein musste.

Jean-Pierre Dardenne: Bei den Probeaufnahmen haben wir sie hinter einen kleinen Tisch gestellt. Wir stellten sie uns in der „Waffels" Verkaufsbaracke vor. Und dieses Mädchen hat die Baracke ganz alleine belebt. Sie hat die Kunden erfunden und sich ihren Raum kreiert. Sie hat auch eine schöne Stimme und einen speziellen Blick. Etwas, das uns vorantrieb und versetzte. Sie gibt sich nicht so, sondern ist auf natürliche Art misstrauisch.

Luc Dardenne: Weil wir zwischen drei Schauspielerinnen zögerten, haben wir alle drei die Szene, als Rosetta von Olivier entlassen ,wird. spielen lassen. Emilie klammerte sich erzürnt an den Tisch. Unmöglich sie zur Vernunft zu bringen. Sie wollte die Arbeit. die Rolle. Sie hatte sich mit Rosetta verwechselt, Emilie ist enegiegeladen und gleichzeitig, wie Rosetta, bleibt sie sogar in einem Wutausbruch jemand, der dich anfleht "nehmt mich, warum nicht mich?"