PARANOID PARK
ein Film von GUS VAN SANT

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Der Eastside Skateboard Park unter einer der Brücken in Portland, Oregon, ist kein Ort, an den Jugendliche aus den besseren Gegenden der Stadt allein hingehen. Hier treffen sich Kids, um die sich niemand kümmert. Sie haben das Areal selbst gestaltet, eine autonome Zone, in der Erwachsene nichts zu suchen haben und die alltägliche Realität keine Rolle spielt – deswegen passt der Name „Paranoid Park“ so gut, von dem auch die Freunde Alex und Jared schon oft gehört haben. Eines Tages fassen sie sich ein Herz und gehen hin. Sie sitzen am Rand und beobachten die Skater, die ganz versunken in ihre Bewegungen scheinen. Alex und Jared sind beeindruckt, sie beschließen,
am darauffolgenden Samstag wiederzukommen. An diesem Tag hat Jared dann aber etwas anderes vor, und so geht Alex eben doch allein hin – was er in dieser Nacht erlebt, und wie er damit umgeht, ist die Geschichte des Films Paranoid Park. Die Erfahrungen der Adoleszenz verdichten sich für Alex auf ein Erlebnis, das allen anderen Sachen (die Schule, die Beziehung zu seiner Freundin Jennifer, die Freundschaft mit dem Mädchen Macy, die Scheidung der Eltern) eine neue Qualität gibt.
Paranoid Park ist die Verfilmung eines gleichnamigen Buches von Blake Nelson. Die Kids vom Paranoid Park heißen hier „Streeters“, sie leben auf dem Areal, während die „Preps“ gewöhnlich zur Schule gehen, ein Jugendzimmer haben und  gelegentlich das Auto der Eltern benutzen dürfen. Die Stimme
von Alex, die dem Roman die Perspektive gibt, ist auch die Stimme des Films. Nach der Credit-Sequenz, während der die St. Johns Bridge im Nordwesten von Portland zu sehen ist, wird der Titel Paranoid Park mit Bleistift in ein Heft geschrieben. Die komplexe zeitliche Struktur und die vielfachen Brechungen der Erzählung sind in dieser ersten Szene, in diesem Akt des Aufschreibens, schon begründet. Denn die Samstagnacht im Paranoid Park bringt für Alex eine einschneidende Erfahrung, die er am liebsten gleich wieder vergessen würde – um diese Ambivalenz ist der Film gebaut, in mehrfachen Anläufen bewegt er sich auf den nächtlichen Moment zu, und schreckt dann doch wieder davor zurück, sich zu stellen.
Gus Van Sant gestaltet Paranoid Park als eine therapeutische Bewegung, die aber ganz und gar unter den Jugendlichen
selbst stattfindet. Die Erwachsenen spielen kaum eine Rolle, nur der Polizist Detective Liu stellt Fragen und gibt sich nicht mit ausweichenden Antworten zufrieden. Er sucht nach den Gründen für den Tod des Security-Mannes James Wilcox, der auf den Gleisen der Eisenbahn unweit vom Paranoid  Park
aufgefunden wurde. Er war unter einen Zug geraten, sein Körper wurde von den Rädern an der Hüfte auseinandergerissen. Ein Skateboard, das in der Nähe gefunden wurde, weist DNA-Spuren von James Wilcox auf. Ein  Zusammenhang mit den Kids vom Paranoid Park liegt nahe, auch wenn anfangs offen bleibt, ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handelt.
Für dieses erste Gespräch mit Detective Liu wird Alex aus der Klasse gerufen. Während er über den menschenleeren Korridor geht, läuft der Song „I Can Help“ von Billy Swan: „If you got a problem, I don’t care what it is, if you need a hand, I can assure You this, I can help.“ Es ist eine sarkastische musikalische
Intervention, mit der Gus Van Sant die erzählerische Strategie von Paranoid Park sehr deutlich macht: denn er versucht nicht so sehr, sich in einen Teenager hineinzuversetzen (auch wenn er, wenn auch nicht so durchgehend wie das Buch, Alex zu Wort kommen lässt), sondern er bleibt auf Distanz und
macht um die Außenperspektive des Filmemachers kein Geheimnis. Nur so kann er über den Bewusstseinsstrom von Alex hinausgehen und diesem auf einer zweiten Ebene eine Struktur geben, die das Problem der Selbst- gewissheit selbst zum Thema werden lässt.
In der fraglichen Nacht wollte Alex im Paranoid Park eigentlich nur zusehen und seine Ruhe haben. Er dachte an seine Eltern, die sich kürzlich getrennt hatten, an seinen kleineren Bruder, der damit nicht gut klarkommt. Die Aufforderung eines Skaters namens Scratch, gemeinsam auf einen Frachtzug aufzuspringen, ist für Alex unwiderstehlich. Die Ahnung von Freiheit und Unabhängigkeit, die sich in der amerikanischen Mythologie damit verbindet, teilt sich auch ihm mit. (In Mala Noche, dem ersten Film von Gus Van Sant, kamen die mexikanischen Migranten als blinde Passagiere auf Frachtzügen nach Portland.) Scratch und Alex surfen für eine Weile auf einem Zug, dabei werden sie von dem Security-Mann entdeckt und verfolgt. Bei dem Versuch, ihn abzuschütteln, schlägt Alex mit dem Skateboard zurück, der Mann stolpert, fällt auf die Gleise und gerät unter den Zug. Gus Van Sant zwingt die Jungen und das Publikum zu einem letzten Blick auf den sterbenden Mann. Das Bild ist im Film so auseinandergerissen wie das Todesopfer – eine Hälfte sieht Alex noch direkt vor Ort, die andere Hälfte bekommt er später von Detective Liu als Fotografie vorgelegt. Die beiden Momente entsprechen einander, denn mit dem ersten Bild beginnt die Verdrängung durch Alex, mit dem zweiten Bild beginnt seine Erinnerungsarbeit. Das Ereignis der Samstagnacht ist der traumatische Kern von Paranoid Park. Er muss freigelegt und danach neu verkapselt werden, er muss zugänglich gemacht und zugleich in Erinnerung verwandelt werden.
Im Buch wird die Frage der Schuld subjektiv behandelt: „I had a revelation then, lying in bed in the dark: I was a bad person.“ Auch hier betont Gus Van Sant stärker die Außenperspektive des Kinos: Er zeigt Alex in einer langen Szene in der Dusche, und wieder ist es der Soundtrack, der einen denkbaren
inneren Monolog übertönt – abstrakte Musik, in die sich Geräusche aus dem Dschungel mischen. Alex ist in Paranoid Park zugleich Identifikationsfigur und Rätsel. Er steht für seine Generation (die meisten Darsteller wurden über die Internetseite MySpace gefunden), wird dabei aber niemals zu einem
„moralischen Subjekt“ im Sinne eines bürgerliche Romans. Er verhält sich zwar wie ein Verbrecher, aber er stellt sich nicht. Mit der Niederschrift seines Erlebnisses besiegelt er es zugleich – ganz eindeutig geht es nicht um „juvenile delinquency“, sondern um eine existenzielle Erfahrung, die sich jedoch
nicht so auswirkt, dass Alex sich zu einer großen Entscheidung aufrafft. Er trennt sich nur von Jennifer, und fasst ein wenig Vertrauen zu Macy, die nicht so attraktiv, dafür aber lebensklug ist.
An einer Stelle geht Alex in eine Shopping Mall, um dort ungestört die Zeitung zu lesen – er will herausfinden, was die Polizei inzwischen über den Tod von James Wilcox in Erfahrung gebracht hat. Ausgerechnet hier läuft ihm Macy über den Weg, die mit ihrer Freundin Rachel ins Kino gehen möchte. Auch hier gibt es eine auffällige Sound-Intervention, ein hoch emotionales Stück klas- sischer Musik, das vielleicht vermittelt zum Ausdruck bringt, wie stark sich Alex (der mit seinem Wissen um seine Tat radikal allein ist) von der Welt abge- trennt fühlt. Der Film erzählt auch von seiner Reintegration.
Mit seinen Strategien der Auratisierung alltäglicher Umstände und seiner Außenpers- pektive auf radikal introvertierte Figuren schließt Gus Van Sant in Paranoid Park an die Vorgängerfilme Elephant und Last Days an. Die jugend- lichen Amokläufer, der Popstar und der Schüler Alex leben in einem vergleich- bar  unzugänglichen Universum. Alle pädagogischen Versuche, das Leben von Teenagern zu „erschließen“, sind für Gus Van Sant nicht von Interesse. (Beide Unterrichtsstunden, aus denen in Paranoid Park ein Ausschnitt zu sehen ist, handeln von naturwissenschaftlichen Phänomenen, haben also mit sozialem Lernen etc. nichts zu tun.) Die Adoleszenz ist nicht mehr, wie noch in Finding Forrester, eine Phase des Übergangs zum Leben der Erwachsenen. Sie wird vielmehr mit einer melancholischen Autonomie assoziiert, die nicht notwendig zu Verantwortung und Moralität führt. Ob Alex tatsächlich eine „bad person“ ist oder nicht, ob er sich der Polizei stellen soll oder die Sache auf sich beruh- en lassen soll, ist für den Film nicht von Interesse.
Stärker noch als in allen seinen früheren Filmen lässt Gus Van Sant in Paranoid Park seine Empathie ins Leere laufen. Für Alex rundet sich die Geschichte letztendlich ab, er kann seine Niederschrift zu Ende bringen, und er hat am Ende auch eine Adressatin, bei der es nicht darauf ankommt, dass sie sein Geheimnis tatsächlich teilt (die Bereitschaft genügt). Gus Van Sant ist der Figur aber nicht näher gekommen – der Film bleibt auf der Distanz seiner verfremdenden Eingriffe. Die Kameraarbeit von Christopher Doyle (ergänzt von  Super-8-Skaterfilmen von Rain Kathy Li) trägt wesentlich dazu bei, dass sich niemals ein stabiles Verhältnis zu den Teenagern und zwischen ihnen ergibt – es ist eine Ästhetik des flüchtigen Eindrucks, die durch die diskon- tinuierliche Montage noch verstärkt wird. Zuletzt sind es aber die musikal- ischen Ideen, die Paranoid Park am stärksten bestimmen. Aus den vielfachen Motiven – von Nino Rota (aus den Fellini-Filmen Giulietta degli Spiriti und Amarcord) über Rap und Speedcore bis zu elektronischen Abstraktionen – setzt sich ein  Bewusstseinsstrom zusammen, der nicht mehr der jugendlichen Hauptfigur zuzuordnen ist, sondern dem Auteur Gus Van Sant, der mit seinem über viele Jahre angesammelten kulturellen Wissen die Distanz erkennbar macht, die ihn selbst und seine Form des Kinos von der Lebenswelt seiner Protagonisten trennt. Während den Bildern noch die Faszination anzusehen ist, die von dem Lebensstil der „Streeters“ ausgeht, stellt Gus Van Sant in der Montage das Begehren nach Identität und Zugehörigkeit wieder in Frage. Dabei ist es nicht weiter von Belang, ob er damit eher auf den Riss zielt, der durch das Leben seines Protagonisten geht, oder auf die gebrochene Identifikation, die ihn als Regisseur an die Figur bindet. Der Film ist, wie das Skaten, eine Bewegung auf schwankendem Grund.
Bert Rebhandl

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