Vom Hundertsten ins Tausendste
(Gespräch zwischen Sandrine Veysset und
Agnes Varda in einem japanischen Restaurant am 14. August, nach
einer Aufführung von MARTHA... MARTHA)
A.V. Ich habe diesen Film soeben zum zweiten
Mal gesehen und muss sagen, er gefällt mir immer besser.
Ich wünsche mir, dass viele Menschen ihn sehen und genauso mögen
wie ich. Der Film hat bereits Preise erhalten, dadurch kommen die Leute
ins Kino. Danach werden sie den Schmerz, den du bietest, lieben. Es
ist so schön, im Kino zu weinen und zu leiden. Obwohl ich bei MARTHA
gar nicht geweint habe; alles geschieht entweder wie in Trance oder
mit Gewalt; der Film ist nicht melodramatisch, sondern alles ist ruhig,
steuert aber unbeirrbar auf den Untergang zu. Du wagst einen absolut
traurigen und schmerzhaften Film, der schon in der ersten Einstellung
mutig ein Gefühl von Unbehagen vermittelt: Da ist eine Frau von
hinten zu sehen, die auf einem Weg geht. So weit, so gut, aber der Weg
befindet sich am äußersten linken Rand des Bildes, im Vordergrund,
das Bild fast ganz ausfüllend, ist ein gewaltiges Gebäude
ohne Fenster zu sehen, dunkel und ein wenig unscharf. Schnell begreift
der Zuseher, dass es sich um ihr Geburtshaus oder zumindest um das Haus
ihrer Kindheit handelt. Und die Mutter umarmt ihre Tochter nicht zur
Begrüßung, und kurz darauf spricht sie sie mit dem falschen
Vornamen an. Doch da ist es ist auch schon zu spät. Weder Vater
noch Mutter geben ihr einen Namen. Der Vorname Martha tut von Anfang
an weh. Während des ganzen Films war ich hingerissen von den starken
Eindrücken, obwohl sie unterschwellig oder vage sind. Eindrücke,
nicht Informationen. Gefühle, keine Erklärungen. Lebensabschnitte,
keine Geschichte. Das Einzige, was wirklich deutlich ist, ist das Abgleiten
von Martha. Sie verliert sich selbst aus den Augen, sie verheddert sich,
wie andere unglückliche Heldinnen, die ich so sehr liebe, wie Mabel
in A WOMAN UNDER INFLUENCE, Mona in SANS TOIT NI LOI (VOGELFREI), Mouchette,
die verlorende Sue, Wanda, die die ein wenig verstört sind, wie
man sagt. Frauen, die mit den Qualen des fehlenden Trostes kämpfen.
Wie war doch gleich der Titel des Buches?
S.V.: "Unser Bedürfnis nach
Trost ist unersättlich" von Stig Dagerman. Yann Goven hat
mir das Buch am ersten Drehtag geschenkt...
A.V.: Und woher kommt diese schreckliche
Geschichte von der Mutter, die sich aufgibt?
S.V.: Ich habe sie in einem Café
in der Nähe meiner Wohnung aufgeschnappt. Der Wirt hat sie dort
zwei Gästen erzählt, und ich bin ganz von ihr überwältigt
gewesen, vor allem vom überraschenden Ende.
A.V.: Sprechen wir von den Müttern.
Du hast bereits zwei Filme gemacht, dieser hier ist dein dritter. Alle
drei drehen sich um die Thematik der Mutter, das Bild der Mutter, mit
Schmerzen und großen Sorgen. Was ist mir dir, hast du eine Mutter?
S.V.: Ja.
A.V.: Verstehst du dich gut mit ihr? Liebst
du sie?
S.V.: Ja... Wir sind sehr verschieden.
A.V.: Seht ihr euch?
S.V.: Ja, recht häufig.
A.V.: Das Emotionale ist bei Künstlern
oft nicht nur sehr stark ausgeprägt, sondern auch ziemlich kompliziert...
Und jetzt wirst du selbst bald ein Kind bekommen. Wie geht es dir?
S.V.: Danke, sehr gut.
A.V.: Es wird sich sicher einiges ändern.
S.V.: Nach dieser Trilogie muss ich neue
Perspektiven eröffnen.
A.V.: Denkst du, es ist das Ende der Serie
Kindheitswunden?
In jedem Fall war die Trilogie gut organisiert. Y'AURA T'IL DE LA NEIGE
À NOËL ? (GIBT ES ZU WEIHNACHTEN SCHNEE?), darin geht es
um eine Mutter, die voller Liebe und mit vielen Kindern ist, Opfer des
Vaters, eines bösartigen Tyrannen, der kaum da ist und der seine
Kinder nicht anerkennt.
In VICTOR wiederum geht es um das adoptierte Kind einer Frau, die selbst
keine Kinder bekommen kann. Sie ist also keine richtige Mutter, und
er hat gar keinen Vater. MARTHA wiederum ist der Inbegriff der schlechten
Mutter, auch wenn sie ihre kleine Lise leidenschaftlich liebt, denn
sie ist schroff, sie ist zu spät, sie macht nichts zu Hause, sie
raucht, sie geht gerne in Bars. Und der Vater ist das Opfer seiner Jugendliebe
und kümmert sich um den Haushalt. Er ist der häusliche Held,
ein Schmerzen erduldender Held, ein wunderbarer Vater, absolut entschlossen
zu helfen. Interessant ist, dass es in dem Film um eine Frau geht, und
trotzdem spielt die Person des Mannes eine sehr wichtige Rolle und ist
außerordentlich rührend dargestellt. Seine ganze Liebe gehört
Martha und der Kleinen. A propos, woher kommt dieses wunderbare Mädchen?
S.V.: Sie ist die Tochter von Sébastien
Régnier, dem Co-Drehbuchautor des Films. Als ich zu ihm gegangen
bin, um mit ihm zu arbeiten, habe ich Lucie kennengelernt - ein sonderbares
Mädchen. Trotz ihrer Fremdartigkeit zieht sie einen in ihren Bann...
sie ist sehr liebevoll. Wir haben uns beide auf Anhieb verstanden, und
ich habe sie gefragt, ob sie nicht in einem Film spielen wolle. Sie
hat nur geantwortet: Mit dir gerne. Es war eine wunderbare Begegnung.
Eine Vertrauensfrage.
Was die Darsteller von Martha und Reymond betrifft, so hat sich Antoinette
Boulat um das Casting gekümmert und mir dann Yann und Valérie
vorgestellt. Sie kannten sich nicht. Ich ließ sie alle drei gemeinsam
mit einem LKW wegfahren und in der Wohnung des Films herumspazieren.
Es war mir sehr wichtig, dass unter ihnen eine Verbundenheit abseits
der Kamera entstand.
A.V.: Sie sind sehr gut, alle drei. Sehr
gut. Valérie wechselt von einer Gefühlsregung in eine andere.
Und das von einer Sekunde zur nächsten - exzellent. Sie ist so
ein Typ wie Bonnaire. Schön, erdverbunden und zerbrechlich. Eine
Schauspielerin für Pialat. Er ist für mich einer der besten.
Magst du die Arbeit von Pialat?
S.V.: Ja. Das ist lustig, schon bei meinem
ersten Film Y'AURA T'IL DE LA NEIGE À NOËL ? wurde Pialat
in Zusammenhang mit meiner Arbeit genannt. Man hat mir auch erzählt,
was er über mich gesagt haben soll: " Wer ist denn diese Nervensäge?"
Aber je älter er wird, desto netter wird er, direkt filmogen...
Ich möchte auf das, was du über die Trilogie gesagt hast,
zurückkommen, nämlich dass es so wirkt, als ob sie etwas Organisiertes
sei. Aber ich habe immer von einem Film zum nächsten gezögert,
ohne mir dessen bewusst zu sein. Erst jetzt im Nachhinein erkenne ich
das Ganze. Es gibt eine Kontinuität in der Arbeit, beginnend mit
der Kamera von Hélène Louvart. Es scheint mir, dass MARTHA
von den anderen beiden Filmen durchkreuzt wird. Da ist einerseits der
Realismus von Y'AURA T'IL DE LA NEIGE À NOËL ?, eine gewisse
Härte des Lebens... aber gleichzeitig auch der verträumte
Aspekt von VICTOR.
A.V.: A propos, der Albtraum von Lise
ist sicherlich einer der schönsten, die ich je gesehen habe. Im
Allgemeinen mag ich deren Darstellung im Kino nicht besonders. Aber
dieser hier ist kurz, außergewöhnlich. Sozusagen die umgekehrte
Geschichte vom Weihnachtsmann. Ein schwarz glänzender, ekliger
Typ, der Spielsachen klaut und fischt.
S.V.: Nach jedem Film frage ich mich,
was ich tun soll, in welche Richtung ich weiter gehen soll. "Y'aura
t'il de la neige à Noël ?" war DIE ERDE,
"Victor... Pendant qu'il est trop tard" war die LUFT,
"Martha... Martha" ist das WASSER.
Bleibt also noch das FEUER.
A.V.: Ach ja, das Wasser. Es ist sehr
präsent in MARTHA, und außerdem ist es sehr trüb. Dieser
grünliche und schlammige Fluss. Am Ende ist da so viel Wasser,
dass man es zwangsläufig mit der Angst zu tun bekommt. Vor allem
weil die Masse dieses Hauses der Kindheit wieder vage zu sehen war.
Es gibt viele Dinge in deinem Film, die nur schlecht oder ungenau zu
sehen sind und die dennoch viel ausmachen. Oder Worte, die da und dort
einfach fallen ... du bist Meisterin darin, heimlich Neugierde zu wecken.
Du weißt, wenn die Mutter und die Tochter spazieren gehen, beide
in Gefahr... Zu sehen ist da Reymond, der unablässig Holz hackt.
Er macht ein großes Feuer im Kamin. Ich habe da wirklich gedacht:
"KÖNNTE DIESES GROSSE FEUER DAS WASSER LÖSCHEN?"
Du siehst also, dein Film ruft sonderbare Gefühle hervor. Am liebsten
würde man jede einzelne Person trösten.
Und sag mir bitte nicht noch einmal, dass dieses Bedürfnis niemals
Befriedigung finden wird!